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Sonntag, 23. Oktober 2011

- Die Kerze -

- 1 -


Das Haus lag auf einer Klippe, ruhig und robust reckte es sich dem Meer entgegen. Sie hatte sich auf Anhieb in diesen Ort verliebt - abgeschieden, still und voller Kraft. Vor der Einsamkeit und der Ruhe hier hatte sie keine Angst, im Gegenteil, sie freute sich darauf hier allein mit sich und dem Wasser zu sein,  fernab der Städte und der Hektik der Menschen. Ein Mal in der Woche sollte ein Postschiff hier anlegen - ansonsten war sie auf sich allein gestellt.
Odette war ein wenig müde und schlapp vom Umzug. Viel hatte sie nicht mitgenommen, doch einige Dinge waren ihr ans Herz gewachsen. Sie hatte alles verstaut und eingeräumt, und draußen war der Tag von der Nacht abgelöst worden. Ihr taten die Knochen weh und sie wollte früh zu Bett gehen, um sich am nächsten Morgen ganz früh ausgeruht und frisch mit der neuen Umgebung vertraut zu machen.




Ihr auserkorenes Schlafgemach, ein kleiner, mit dunklem Holz ausgestatteter Raum, befand sich am Anfang des schmalen, langen Flurs auf der oberen Etage. Der Boden war mit dunkelrotem Teppich ausgelegt und die Wände, aus dunklem Stein, gaben angenehme Wärme ab. In ihrem Zimmer befand sich außer dem Bett, einem schmalen Schrank, in dem sich Bettwäsche befand und ein Morgenmantel aus blauem Satin, nur ein kleiner Nachtisch, auf dem eine Kerze stand. Es war eine dicke, elfenbeinweiße Kerze, die auf einem silbernen, mit Drachen verzierten Kerzenständer aufgespießt war.
Zu Odettes Überraschung brannte die Kerze. Nun ja, dachte sie, sie würde sie schon angezündet haben, müde wie sie war habe sie es nur wieder vergessen. Sie schloss die schweren, mit großen, goldenen Troddeln versehen Vorhänge und legte sich ins Bett. Es knarrte leise, und sie lächelte. Schon jetzt fühlte sie sich heimisch. Sie blies die Kerze aus und schloss die Augen. Binnen von Sekunden war sie eingeschlafen.



Der Morgen bot ihr einen wunderbaren Anblick: die Luft war klar und kalt, das Meer lag hell und ruhig vor ihr, breitete sich aus bis zum Horizont und schien, ganz sanft, die Wolken zu küssen. Flauschig scheinende, volle Wolken, die einen herrlichen Tag versprachen. Odette hatte sich einen heißen Tee gekocht und in eine Decke gewickelt. So saß sie eine ganze Weile auf der Treppe zu ihrem neuen Heim, und genoss den phantastischen Anblick, ja, sog ihn geradezu in sich auf. Erst als die Kälte merklich in ihre Knochen schlich, löste sie sich von der sagenhaften Landschaft und kehrte in das Haus zurück. Einiges hatte sie noch zu tun, doch sie verschob es auf den nächsten Tag, heute wollte sie sich ausruhen.
Sie ging ins Schlafzimmer und fiel wie erschlagen aufs Bett - als ihr Blick auf die Kerze fiel, die munter vor sich hinflackerte. Komisch, sie hatte sie nicht angezündet. Mit einem Mal war Odette hellwach, sie erhob sich und trat auf den langen Flur hinaus. "Hallo?" rief sie leise, ein wenig Furcht davor, das ihr tatsächlich jemand antworten könne. Nichts, kein Geräusch war zu hören - außer dem leisen Wogen des Meeres, kleine Wellen die sich an den Klippen brachen. Sie schüttelte den Kopf und sagte sich, das sie die Kerze vermutlich selber angezündet haben müsse, denn anders könne es ja nicht sein. So legte sie sich schlafen.



So strahlend der Tag gewesen war, so verregnet war die Nacht. Düstere Wolken hatten sich zusammengezogen, während Odette selig schlummerte. Mit einem Mal brach ein Sturm los, der das Wasser aufpeitschte und die tosenden Wellen gegen die Klippen schlug. Eine Tür knallte, und Odette schreckte aus ihrem traumlosen Schlaf hoch.
Sie reckte sich. Die Kerze brannte noch immer. Sie zuckte die Achseln, blies die Kerze aus und ging in die Küche, um sich etwas zu essen zu machen. Kraft, sich etwas zu kochen, hatte sie nicht, und die Lust fehlte ihr ebenso. Somit briet sie sich ein paar Rühreier und machte sich einen heißen Kakao. Dann kehrte sie auf ihr Zimmer zurück.
Die Tasse wollte ihr aus der Hand gleiten vor Schreck, als sie sah, das die Kerze wieder brannte. Das gibts doch gar nicht! dachte sie, fast schon wütend. Ist das ein Scherz? Sie mußte an die Scherzkerzen denken, die man nicht ausblasen konnte. Vermutlich ein Streich des Vorbesitzers. Sie aß etwas und betrachtete dann die Kerze. Die kleine, helle Flamme flackerte leicht, und je länger sie sie betrachtete, desto mehr schien sie näher zu rücken.  Odette blies die Flamme aus. Für einen Sekundenbruchteil, in der sie schon dachte "na also, geht doch!", war die Flamme erloschen - und ging dann erneut an. Odette befeuchtete ihre Finger und drückte den Docht zusammen - die Flamme flackerte wieder auf. Odette war ratlos. Was konnte das bedeuten? War es ein Zeichen, vielleicht für einen verschollenen Seemann? Sollte dieses Licht ihm den Heimweg leiten?
Odette dachte eine Weile nach, bis sie in einen unruhigen Schlaf fiel.



Sie schreckte hoch. Geräusche waren im Haus zu hören gewesen. Oder war es der Sturm, der mit dem Haus spielte? Alte Häuser machen mitunter seltsame Geräusche, und sie kannte ihre neue Umgebung noch nicht sehr gut. Sie betrachtete die Kerze, die immer noch brannte. Kein Tröpfchen Wachs war an dem Stamm hinuntergelaufen, auch schien es ihr nicht so, als sei sie schon ein Stück weit hinunter gebrannt.
Sie griff den schweren Kerzenständer und ging auf den Flur, langsam und bedacht. Ein wenig ängstlich sah sie sich um, schaute in jedes Zimmer hinein, woher die Geräusche kommen mochten. Immer wieder hielt sie inne, atmete durch und redete sich Mut zu. Nicht in allen Räumen gab es Lampen, und so leistete die Kerze ihr gute Dienste. Je weiter sie den Flur entlangschritt, desto mehr flackerte die Flamme, nervös und immer greller werdend zuckte sie hin und her.  Sie hörte hinter der hintersten Wand, hinter einem Wandteppich, ein monotones Klopfen. Das konnte nicht sein! Es mußte aus einem der Räume kommen... oder von dem Sturm, der noch tobte.
Odette wurde Bang zumute. Sie sagte sich, das sie die Räume lieber am anderen Tag, wenn es wieder hell war und genug Licht in die Zimmer fiel, erkunden wollte. Schnell tappte sie in ihr Zimmer zurück und schloss die Tür hinter sich ab. Ihr Herz klopfte bis zum Hals. Sie blieb einen Moment wie angewurzelt stehen und lauschte auf das Klopfen. Hier konnte sie es kaum noch vernehmen, und sie tat alles daran, es zu überhören. Dann hörte es auf und alles war still.
Schließlich stellte sie die Kerze wieder an ihren angestammten Platz - doch die Flamme wollte nicht aufhören zu zucken und zu zetern. Das Knistern, das sie abgab, wurde lauter und kam Odette ohrenbetäubend vor. Sie zog sich die Decke über die Ohren und wünschte sich, einfach schnell einzuschlafen.



- 2 -


Bekleidet mit einem blauen Morgenmantel hatte die junge Frau in einer Blutlache gelegen. Mitten auf dem Flur war sie niedergestochen worden, das Blut war in das dunkle Holz eingesickert. Man hatte Teppich darüber gelegt, denn die Lache war nicht wieder wegzubekommen gewesen. Und man wollte das Haus doch verkaufen können. Niemand hatte erfahren sollen, das hier jemand ermordet worden war. Miranda war erst Mitte zwanzig gewesen, noch jung und voller Elan und Leben. Nun nicht mehr. Wie es dazu hatte kommen können, war den Polizisten ein Rätsel. Sie hatte mit ihrem Freund hier gewohnt, war nach vielen Jahren aus der Stadt wieder in ihr Elternhaus zurückgekehrt. Erst nachdem Jenk, der seit vielen Jahrzehnten das Postschiff steuerte und Miranda von Kindesbeinen an kannte, sie einige Wochen nicht zu Gesicht bekommen hatte, war jemand zu dem kleinen Haus auf den Klippen hinaus gefahren, um nach ihr zu sehen.
Der Presse hatte man davon nichts mitgeteilt, so war Miranda still gestorben - vergessen im Tod, so sagte man in der Gegend, denn ihr Dahinleben war schnell in aller Munde in dem kleinen Ort. Ihr Freund war spurlos verschwunden, und man mutmaßte bald, er habe sich ins Meer gestürzt. Verrückt geworden, durchgedreht, so sagten sie.
Miranda aber wollte nicht, das es wieder geschah. Sie erinnerte sich lebhaft, zu lebhaft, an ihre Ermordung. Ihr Freund schien in den ersten Wochen die Freiheit, die dieses Fleckchen Erde bot, in vollen Zügen zu genießen. Doch mit der Zeit drückte die Abgeschiedenheit auf sein Gemüt, und er dachte sich wilde Spiele aus, die sie miteinander spielten. Zuerst schien es noch harmlos, wenn er um das Haus schlich und an den Fensterläden pochte, mit den Türen klapperte und mit verstellter Stimme rief "ich kriege dich!". Doch mit der Zeit, nach einigen Monaten, bekam sie mehr und mehr Angst.
Sie bat ihn, damit aufzuhören, sich ein Hobby zu suchen - zurück zur Malerei, bot sich doch hier die beste Möglichkeit dazu. Er richtete sich ein spärliches Atelier ein, doch er wollte mehr als nur malen. Er trieb sie nahezu in den Wahnsinn mit seinen Spielchen. Er modellierte seltsame Gestalten, Köpfe, Figuren aus Ton und Stoff und stellte sie in die dunkelsten Ecken des Hauses. Ständig erschrak Miranda davor, und nach einiger Zeit lagen ihre Nerven blank. Er schlief kaum noch, verbrachte die Nächte in seinem Atelier und sie hörte nur das dumpfe, monotone Klopfen über den Flur hallen. Sie bezog schließlich das erste Zimmer auf dem Flur, das am weitesten entfernt von seiner Werkstatt war.
Eines Nachts gerieten sie in einen heftigen Streit. Vor Wut wollte sie ihre Sachen packen und in den Ort fahren, doch er nahm ihr die Autoschlüssel weg und sie fühlte sich hilflos und einsam; sie sagte ihm, er solle weggehen, zurück in die Stadt und sich auskurieren. Oder gleich zum Teufel gehen - und das tat er dann wohl auch in jener Nacht. Er kam in ihr Zimmer geschlichen, mit einem Keil in der Hand. Seine Arme und sein Gesicht waren vom feuchten Ton verschmiert, er roch feucht und irden. Miranda war panisch vor ihm auf den Flur geflohen, doch noch ehe sie die Treppe hinunter stürzen konnte, hatte er den Keil tief in ihre Brust gebohrt. Sie fühlte das Leben aus sich weichen und fiel zu Boden -



Bis sie wieder erwachte. Es dauerte eine Weile bis sie begriff, das sie ermordet worden war. Sie sah ihren toten Körper nicht - er war weggbracht worden. Doch sie sah das Blut, das den Boden durchtränkt hatte. Sie lauschte den Stimmen der zwei älteren Damen, die sich in ihrer Abwesenheit um das Haus gekümmert hatten. Sie sagten, sie müssen verkaufen. Sie müssen den Boden herrichten, damit niemand erfährt, was hier geschehen ist. Das dieses Haus einen verrückt machen konnte...


Es sollte nie wieder geschehen. Miranda wußte, das er noch da war. Versteckt hatte er sich vor den Leuten, vor der Polizei. Die Tür zu seinem Atelier lag hinter einem Wandvorhang, ein versteckter Raum, von dem kaum jemand wußte. Sie glitt durch den Gobelin und sah das Desaster, das er hier angerichtet hatte - überall die scheußlich verzerrten Gesichter und die entstellten Figuren, die er modelliert hatte. Lebensecht sahen sie aus - und alle stellten sie dar. Hier hatte sie den Tod vor Augen: ihren Tod! Er hatte jeden ihrer Züge festgehalten, jede Schrecksekunde und jeden Moment, in dem das Leben aus ihr gewichen war.
Und nun hatte er sich hier verkrochen, hier eingerichtet. Das war sein Werk, seine Schöpfung!



Als sie die junge Frau eines Tages vor ihrem Haus erblickte, wie sie Kartons auslud und es sich in dem kleinen Anwesen gemütlich machte, schlüpfte Miranda in die Kerze an ihrem Bett. Solange sie lebte, wollte sie leuchten.


- Ende -


© 2011 by Sodapop Shadow





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